News

21.01.2022 – Die Multiple Sklerose (MS) stellt per se kein Risiko für schwere COVID-19 Verläufe dar. Dennoch können Personen mit Multipler Sklerose (PwMS), die deutliche Behinderungen aufweisen oder mit bestimmten Immuntherapeutika behandelt werden ein erhöhtes Risiko in der aktuellen SARS-CoV-2 Pandemie haben. Während die Impfung die wichtigste Strategie in der Prävention der Infektion ist, sind nun auch nachweislich wirksame Therapien der COVID-19 Erkrankung verfügbar. Dabei ist der frühzeitige Einsatz entscheidend für den Therapieerfolg, weshalb das Wissen über Nutzen und Risiken für die rationale Anwendung dieser Therapien wichtig ist.  

Hintergrund: Bei PwMS, die bestimmte Immuntherapien erhalten, muss mit einem abgeschwächten Impfschutz gerechnet werden. Die relevanten Medikamentengruppen sind dabei S1P1-Modulatoren (Fingolimod, Siponimod, Ozanimod und Ponesimod) und die B-Zell-depletierenden Therapien (Ocrelizumab, Ofatumumab, Rituximab sowie Inebelizumab – ein Immuntherapeutikum für die Neuromyelits optica Spektrum-Erkrankung). Unter diesen Therapien ist eine reduzierte Impfantwort belegt. Auch nach einer 3. Impfdosis kann der Impferfolg abgeschwächt sein und bei einem Teil dieser PwMS können keine oder nur niedrig-titrige gegen SARS-CoV-2 gerichteten Antikörper ohne neutralisierende Aktivität nachgewiesen werden [1]. Auch sind ein Großteil der PwMS über 50 Jahre alt und haben Begleiterkrankungen, weshalb sie unabhängig von der MS zu einer Risikogruppe zählen. 

Kürzlich abgeschlossene Studien haben nun gezeigt, dass eine sog. passive Immunisierung mit SARS-CoV-2 neutralisierenden monoklonalen Antikörpern in der frühen Phase der Infektion wirksam ist. „Diese monoklonalen Antikörper können das Virus zumindest teilweise „neutralisieren“, bevor dieses eine schwere COVID-19 Erkrankung hervorruft“, so Priv. Doz. Dr. Clemens Warnke, Oberarzt am Universitätsklinikum Köln und Mitglied im Fachausschuss Versorgung und Therapeutika des Krankheits-bezogenen Kompetenznetzwerks Multiple Sklerose (KKNMS).

In Deutschland existieren verschiedene monoklonale Antikörper zur Behandlung von COVID-19. Dazu zählt die Antikörperkombination Casivirimab/Imdevimab (Ronapreve®), die seit November in der EU zugelassen ist. Des Weiteren sind die monoklonalen Antikörper Regdanvimab (Regkirona®) und kürzlich auch Sotrovimab (Xevudy®) in der EU zugelassen worden. Die Behandlung muss rasch begonnen werden, im späteren Verlauf der COVID-19 Erkrankung ist die Wirksamkeit der monoklonalen Antikörper nicht belegt. Das bedeutet, dass die Substanzen bei nachgewiesener SARS-CoV2-Infektion vor bzw. spätestens 7 Tage (bei Sotrovimab ≤ 5 Tage) nach Symptombeginn bei Personen über 12 Jahren und über 40 kg Körpergewicht ohne zusätzliche O2-Supplementation eingesetzt werden sollen. Die Patienten erhalten die monoklonalen Antikörper in Form einer einmaligen intravenösen Infusion oder als subkutane Injektion. Hierbei muss eine adäquate Behandlung von Infusionsreaktionen/allergischen Reaktion gewährleistet sein, was häufig den Einsatz in spezialisierten Einrichtungen erforderlich macht. Ein weiteres Problem der monoklonalen Antikörper ist die fragliche Wirksamkeit auf sog. Variants of Concern (VOC) wie aktuell die Omikronvariante. Die Fa. Roche, der Hersteller von Ronapreve®, hat bereits mitgeteilt, dass der monoklonale Antikörper nicht in der Lage ist die Omikron-Variante zu neutralisieren [2]. Auch Regkirona® ist nach vorliegenden Daten nicht gegen die Omikronvariante wirksam, wonach Xevudy® als einzige Option unter den monoklonalen Antikörpern zur Neutralisierung der Omikrovariante verbleibt [3]. Mit der Verfügbarkeit von Sotrovimab (Xevudy®) wird Ende Januar in Deutschland gerechnet.

Aus den o.g. Gründen sind die neuesten Entwicklungen bei den oralen antiviralen Substanzen von Interesse. Für zwei orale antivirale Substanzen (der Polymerasehemmer Molnupiravir sowie der Proteaseinhibitor Paxlovid® (Nirmatrelvir in Kombination mit Ritonavir) liegen Studiendaten vor [4,5]. Beide Substanzen zeigten beim Einsatz ≤5 Tagen nach Symptombeginn bei erwachsenen Patienten mit Risiko für einen schweren COVID-19-Verlauf eine statistisch signifikante Reduktion der klinischen Verschlechterungsrate definiert als Hospitalisierung oder Tod (um 30% bei Molnupiravir bzw. 86% bei Paxlovid). Für Molnupiravir liegt mittlerweile eine Empfehlung der EMA vor und aktuelle Berichte legen nahe, dass die Substanz eine Wirkung gegen die Omikronvariante zeigt [6]. Nach Vorgaben des Bundesministeriums für Gesundheit (BMG) kann Molnupiravir bei ambulanten Patienten oder Patienten, die unabhängig von COVID-19 hospitalisiert sind (z.B. bei nosokomialer Infektion), keinen zusätzlichen Sauerstoffbedarf haben und ein Risiko für einen schweren Verlauf aufweisen eingesetzt werden. Schwangerschaft stellt eine absolute Kontraindikation für den Einsatz von Molnupiravir dar, eine wirksame Kontrazeption bei Frauen ist daher sicherzustellen. Auch Männer sollten für drei Monate nach Einnahme von Molnupiravir kein Kind zeugen. 

Die Studiendaten von Paxlovid® sind mittlerweile bei der EMA eingereicht, eine Zulassung wird noch im Januar 2022 erwartet, wobei sich das BMG für eine Notfallzulassung einsetzen will. Bei der Verordnung von Paxlovid® sind vielfältige Medikamenteninteraktionen zu beachten und müssen vorab ärztlich geprüft werden.

Aktuell steht als antivirale Therapie zur Verhinderung von schweren Krankheitsverläufen Remdesivir zur Verfügung. Bei Risikopatienten, die innerhalb von 7 Tagen nach Symptombeginn behandelt wurden, senkt die Gabe von Remdesivir das Risiko für Hospitalisation und Tod um 87% (7). Dafür ist eine Infusion an drei aufeinanderfolgenden Tagen notwendig. 

Vor diesem noch unklaren und dynamischen Hintergrund empfiehlt der Fachausschuss Arzneimittel und Versorgung des Krankheitsbezogenen Kompetenznetzwerks Multiple Sklerose (KKNMS) zunächst folgende Vorgehensweisen:

  • Grundsätzlich stellt allein die Diagnose einer Multiplen Sklerose ohne das Vorliegen von Risikofaktoren für einen schweren COVID-19-Verlauf keine Indikation für den Einsatz von monoklonalen Antikörpern oder antiviralen Substanzen dar.
  • Der Einsatz einer COVID-19-Therapie bei PwMS und nachgewiesener SARS-CoV-2-Infektion (vor bis spätestens ≤ 7 Tage nach Symptombeginn) kann erwogen werden, wenn folgende Bedingungen vorliegen:
  • Therapie mit S1P1-Modulator oder B-Zell-Depletion bzw. unzureichender SARS-CoV2-Spikeprotein-Titer aus anderem Grund.
  • Weitere Risikofaktoren für einen schweren COVID-19 Verlauf. Für die MS können das z.B. ein Alter > 50 Jahre, ein höherer Grad an Behinderung (EDSS Werte > 6.5), Adipositas, eine zusätzliche Immunsuppression oder weitere chronische Vorerkrankungen sein.
  • Bezüglich der genannten weiteren Risikofaktoren sei darauf hingewiesen, dass es noch keine Empfehlungen zum Einsatz der neueren Substanzen in der Allgemeinbevölkerung gibt. Die benannten Risikofaktoren spiegeln daher einen Konsens der Verfasser dieser Stellungnahme wider und sind insbesondere für geimpfte Personen nicht evidenzbasiert. Breiter abgestimmte Empfehlungen für die Allgemeinbevölkerung liegen noch nicht vor, sind jedoch in Arbeit. Bis dahin sind individuelle Entscheidungen zu treffen.   
  • Da Omikron derzeit die vorherrschende Virusvariante in Deutschland ist, sollte sich die Auswahl des therapeutischen Konzeptes an der Wirksamkeit gegen Omikron orientieren.
  • Für die monoklonalen Antikörper existieren auch Daten zur Post-Expositionsprophylaxe (PEP), wobei in Studien zur PEP ein Zeitraum von max. 96 Stunden nach Exposition gegenüber einem SARS-CoV2-infizierten Haushaltsangehörigen eingehalten wurde. Wenn ein Risiko für ein unzureichendes Impfansprechen (S1P1-Modulator oder B-Zell-Depletion) vorliegt oder die Impfung lange zurückliegt und zusätzlich Risikofaktoren für einen schweren COVID-19-Verlauf (wie Alter > 50 Jahre, EDSS Werte > 6.5, Adipositas, zusätzliche Immunsuppression, weitere chronische Vorerkrankungen) bestehen, kann ein Einsatz bei PwMS erwogen werden, vorausgesetzt eine Wirkung gegen VOC liegt vor. 
  • Ganz wichtig und unstrittig: Die prophylaktische Gabe der monoklonalen Antikörper (passive Immunisierung) ist keine Alternative zu einer aktiven Immunisierung (Impfung), u.a. auch weil der Schutz nur kurz anhält und sich kein immunologisches Gedächtnis ausbildet. „Eine vollständige Impfung inkl. der 3. Impfung soll unter allen MS-Therapien und bei allen MS-Patienten unbedingt erfolgen“, betont Prof. Dr. Heinz Wiendl, Direktor der Neurologischen Universitätsklinik Münster und Sprecher des Vorstandes des KKNMS.

Diese Stellungnahme wurde im Namen des Vorstandes des KKNMS e.V. (Prof. Dr. Ralf Gold, Bochum; Prof. Dr. Martin Kerschensteiner, München; Prof. Dr. Tania Kümpfel, München; Prof. Dr. Ralf Linker, Regensburg; Prof. Dr. Mathias Mäurer, Würzburg; Prof. Dr. Heinz Wiendl (Sprecher), Münster; Prof. Dr. Frauke Zipp, Mainz) sowie der Mitglieder der Task Force Versorgungsstrukturen und Therapeutika des KKNMS e.V. (Prof. Dr. Klaus Berger MPH MSc, Münster; Prof. Dr. Judith Haas, Berlin; Prof. Dr. Aiden Haghikia, Magedeburg; Dr. Boris Kallmann, Bamberg; Prof. Dr. Ingo Kleiter, Berg; Prof. Dr. Mathias Mäurer (Sprecher), Würzburg; Dr. Uwe Meier, Grevenbroich; Prof. Dr. Friedemann Paul, Berlin (Autor der Stellungnahme); Prof. Dr. Corinna Trebst, Hannover; Prof. Dr. Hayrettin Tumani, Ulm; Dr. Clemens Warnke, Köln (Autor der Stellungnnahme); Prof. Dr. Martin Weber, Göttingen; PD Prof. Dr. Heinz Wiendl, Münster) unter Mitarbeit und Beratung von Prof. Dr. med. Gerd Fätkenheuer, Leiter Infektiologie Klinik I für Innere Medizin, Universitätsklinikum Köln und Prof. Dr. Leif Erik Sander, Medizinische Klinik mit Schwerpunkt Infektiologie und Pneumologie Charité – Universitätsmedizin Berlin verfasst.

* * *

Der Abdruck ist frei.

* * *

Das Krankheitsbezogene Kompetenznetz Multiple Sklerose (KKNMS) ist eines von bundesweit 21 Kompetenznetzen in der Medizin, die vom Bundesministerium für Bildung und Forschung initiiert wurden. Sie alle verfolgen das Ziel, Forscher zu spezifischen Krankheitsbildern bundesweit und interdisziplinär zu vernetzen, um einen schnellen Transfer von Forschungsergebnissen in die Praxis zu ermöglichen. Der Fokus der aktuellen KKNMS-Projekte liegt auf der langfristigen Verbesserung der MS-Diagnose, -Therapie und -Versorgung. Die Geschäftsstelle ist am Universitätsklinikum Münster angesiedelt.

1952/1953 als Zusammenschluss medizinischer Fachleute gegründet, vertritt die Deutsche Multiple Sklerose Gesellschaft (DMSG) die Belange Multiple Sklerose Erkrankter und organisiert deren sozialmedizinische Nachsorge. Die DMSG mit Bundesverband, 16 Landesverbänden und etwa 800 örtlichen Kontaktgruppen ist eine starke Gemeinschaft von MS-Erkrankten, ihren Angehörigen, fast 4.000 ehrenamtlichen Helfern und 276 hauptberuflichen Mitarbeitern. Insgesamt hat die DMSG fast 43.000 Mitglieder. Mit ihren umfangreichen Dienstleistungen und Angeboten ist sie heute Selbsthilfe- und Fachverband zugleich, aber auch die Interessenvertretung MS-Erkrankter in Deutschland. Schirmherr des DMSG-Bundesverbandes ist Christian Wulff, Bundespräsident a.D.

Multiple Sklerose (MS) ist eine chronisch entzündliche Erkrankung des Zentralnervensystems (Gehirn und Rückenmark), die zu Störungen der Bewegungen, der Sinnesempfindungen und auch zur Beeinträchtigung von Sinnesorganen führt. In Deutschland leiden nach neuesten Zahlen des Bundesversicherungsamtes mehr als 250.000 Menschen an MS. Trotz intensiver Forschungen ist die Ursache der Krankheit nicht genau bekannt.

MS ist keine Erbkrankheit, allerdings spielt offenbar eine genetische Veranlagung eine Rolle. Zudem wird angenommen, dass Infekte in Kindheit und früher Jugend für die spätere Krankheitsentwicklung bedeutsam sind. Welche anderen Faktoren zum Auftreten der MS beitragen, ist ungewiss. Die Krankheit kann jedoch heute im Frühstadium günstig beeinflusst werden. Weltweit sind schätzungsweise 2,8 Millionen Menschen an MS erkrankt.

This site is registered on wpml.org as a development site. Switch to a production site key to remove this banner.