27.03.2023 – Seit 2017 können Ärztinnen und Ärzte nach §31 (6) SGB V Cannabisblüten und Cannabispräparate als Arzneimittel für Patientinnen und Patienten mit einer schwerwiegenden Erkrankung zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) verordnen. Zudem hatte der Gesetzgeber festgelegt, dass das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte von 2017 bis 2022 eine Begleiterhebung zum Einsatz von Cannabis durchführt und der G-BA auf dieser Grundlage das Nähere zum zukünftigen Leistungsanspruch regelt. Am 16. März 2023 hat der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) die Detailregelungen beschlossen, die zukünftig bei der ärztlichen Verordnung von medizinischem Cannabis als Leistung der gesetzlichen Krankenversicherung gelten.
„Die Chancen des sog. Cannabisgesetzes von 2017 bestehen darin, schwer an MS Erkrankte unkomplizierter als zuvor individuell mit medizinischem Cannabis zu behandeln, um Schmerzen und Spastik zu lindern“, so Dr. Boris Kallmann, niedergelassener Neurologe und Mitglied der KKNMS Task Force Versorgungsstrukturen und Therapeutika. Die Autoren dieser Stellungnahme bekennen sich uneingeschränkt zur evidenz basierten Medizin (EbM), stellen aber auch fest, dass es Grenzbereiche in der Medizin gibt. Für Sondergruppen, z.B. von länger Erkrankten und unter schwerer Spastik und starken chronischen Schmerzen leidenden MS-Betroffenen, sind Therapieempfehlungen nach strikten EbM Kriterien absehbar nicht zu erwarten. Daher kann der ärztlich kontrollierte und unbürokratisch verordnete, individuell dosierte Einsatz von Cannabis-haltigen Arzneien – so wie er jetzt vom G-BA festgelegt wurde – in einer kleinen, schwer betroffenen Patientengruppe eine Chance auf Linderung von Symptomen wie Schmerz und Spastik bieten. „Ein neurologisch indizierter Einsatz von Medizinal-Cannabis in seinen unterschiedlichen Darreichungsformen (Fertigarzneimittel, Cannabisblüten und Vollextrakte) sollte bei schwer an MS Erkrankten zur Therapie von Schmerzen und Spastik möglich sein und bei Schwersterkrankten ohne Zeitverzug gegeben werden können“, erläutert Prof. Frauke Zipp, stellvertretende Vorstand-sprecherin des KKNMS und Direktorin der Klinik für Neurologie, Universitätsmedizin Mainz.
Allerdings sehen das krankheitsbezogene Kompetenznetzwerk Multiple Sklerose (KKNMS) und die Deutsche Multiple Sklerose Gesellschaft (DMSG) auch Gefahren für MS-Betroffene. Prof. Clemens Warnke, Leiter der AG Klinische Neuroimmunologie der Uniklinik Köln und Mitglied der KKNMS Task Force Versorgungsstrukturen und Therapeutika, kommentiert: „Aus wissenschaftlicher Sicht sind Individualerfahrungen zu Cannabis-haltigen Arzneien ohne den medizinisch-wissenschaftlichen Nachweis einer Wirküberlegenheit gegenüber Placebo oder einer zweckmäßigen Vergleichstherapie, ohne echte Sicherheits- und Verträglichkeits- oder Dosisfindungsstudien grundsätzlich und in der Breite unzureichend, um eine medizinische Verordnung zu begründen.“ Sogenannte „Qualifizierungsoffensiven“ zu Produkten ohne Daten aus kontrollierten Studien dürfen nicht für das Marketing von Herstellern dieser Produkte missbraucht werden.
Es ist zu befürchten, dass die Sonderregelungen für Cannabis-haltige Arzneimittel die notwendige Durchführung klinischer Studien mit einer pharmakologisch interessanten Substanzklasse auch für die Zukunft erschweren, da wirtschaftliche Anreize für solche Studien entfallen. Die Möglichkeit, Cannabis-haltige Arzneimittel ohne formale Zulassung zulasten auch der gesetzlichen Krankenkassen verordnen zu können, führt zu Kosten für die Gesamtgemeinschaft, obwohl Dosierung, Wirksamkeit und Sicherheit nicht hinreichend untersucht sind. Eine von ökonomischem Interesse z.B. der Cannabishersteller getriebene breite Verordnung ohne hinreichende wissenschaftliche Grundlage ebenso wie die Verordnung zum schädlichen Freizeitgebrauch ist zu verhindern.
Das KKNMS und die DMSG sprechen sich daher grundsätzlich für eine Rückkehr zum Prinzip der EbM für die auf dem deutschen Markt vertriebenen und verordnungsfähigen Cannabis-haltigen Arzneimittel aus. Gerade für MS-Betroffene mit vorgeschädigtem Zentralnervensystem ist es von entscheidender Bedeutung, verlässliche Daten zu Wirksamkeit und Verträglichkeit im Zusammenhang mit dem Einsatz von Dronabinol, Nabilon und insbesondere Cannabisblüten als Basis einer etwaigen Verordnungspraxis zur Verfügung zu haben. Ohne systematische Studien kann nicht verlässlich über das Ausmaß von positiven und auch negativen Effekten aufgeklärt werden, wie sie beispielsweise von Landrigan et al. (2021) für die kognitiven Leistungen bei MS-Betroffenen kürzlich berichtet wurden.
Die Begleiterhebung des BfArM dokumentiert mögliche Fehlentwicklungen auf Grundlage des Gesetzes. Das sog. Cannabisgesetz sollte daher aus Sicht des KKNMS überdacht werden und kontrollierte Zulassungsstudien im Falle von Phytocannabinoiden auf den Weg gebracht werden.
Empfehlungen: Bis zuverlässige Daten aus kontrollierten Studien bzw. Patientenregistern vorliegen, empfehlen die Autorinnen und Autoren dieser Stellungnahme das Folgende:
- Grundsätzlich ist wissenschaftlich erprobten Therapeutika wie Nabiximols (Sativex®) zur Behandlung der MS-induzierten Spastik (und Schmerz) der Vorzug vor anderen Cannabispräparaten zu geben. Der G-BA unterstützt diese Sichtweise in §44 (2) der Arzneimittelrichtlinie: „Vor einer Verordnung von Cannabis in Form von getrockneten Blüten oder Extrakten ist zu prüfen, ob andere cannabishaltige Fertigarzneimittel zur Verfügung stehen, die zur Behandlung geeignet sind.“
- Die Autorinnen und Autoren erkennen an, dass bei schwer an MS Erkrankten Einzelfallentscheidungen und eine unbürokratische Verordnung auch von Tetrahydrocannabinol (Dronabinol), synthetischen Cannabinoiden wie Nabilon und Vollextrakten möglich sein sollte. Allerdings enthalten Letztere bis zu 120 verschiedene Cannabinoide, außerdem eine Vielzahl von Terpenen und Flavoiden, die neben positiven Effekten auch bislang unzureichend untersuchte negative Effekte haben können.
- Insbesondere bezüglich der Verordnung von Cannabisblüten möchten die Autorinnen und Autoren im Namen des KKNMS zur Zurückhaltung raten. Hier steht aufgrund des Einsatzes über Inhalation eine erkennbare Gefahr für einen missbräuchlichen Einsatz z.B. Rauchen oder Kombination mit illegal erworbenen Cannabisblüten oder Einsatz hoher Dosierungen im Raum, außerdem zusätzlich eine potenzielle Schädigung pulmonaler Strukturen. Auch die Pharmakokinetik einer gleichmäßig und länger zur Verfügung stehenden oral aufgenommenen Cannabinoid-Medikation und dadurch geringeren Dosierung ist aus medizinischer Sicht eindeutig zu bevorzugen im Vergleich zur schnellen und deutlich kürzer anhaltenden Wirkung von inhalierten Cannabinoiden.
Mit der Stellungnahme möchten das KKNMS und die DMSG auch die Hersteller von medizinischen Cannabisprodukten explizit auffordern, nicht nur Stellungnahmen und Qualifizierungsoffensiven (wie die „Schmerzinitiative Cannabinoide 2022/2023“) durch „Poolfinanzierung“ zu unterstützen, sondern auch die systematische Erhebung von Daten zu ihren Produkten in randomisierten kontrollierten Studien und Patientenregistern vorzunehmen. Diese Forderung richtet sich auch an Entscheidungsträgerinnen und -träger in Politik und Behörden, um zu einem Patienten-zentrierten, wirksamen und sicheren Einsatz von Cannabinoiden in der Zukunft zu kommen.
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Der Abdruck ist frei.
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Quellen
- [1] Cannabis and multiple sclerosis. Fragoso YD, Carra A, Macias MA. Expert Rev Neurother 2020 Aug;20(8):849-854. doi: 10.1080/14737175.2020.1776610. Epub 2020 Jun 18.PMID: 32515670 Review
- [2] Cannabis and cannabinoids for symptomatic treatment for people with multiple sclerosis. Filippini G, Minozzi S, Borrelli F, Cinquini M, Dwan K. Cochrane Database Syst Rev 2022 May 5;5(5):CD013444. doi: 10.1002/14651858.CD013444.pub2.PMID: 35510826 Review
- [3] A Critical Review of the Role of the Cannabinoid Compounds Δ9-Tetrahydrocannabinol (Δ9-THC) and Cannabidiol (CBD) and their Combination in Multiple Sclerosis Treatment. Jones É, Vlachou S. Molecules 2020 Oct 25;25(21):4930. doi: 10.3390/molecules25214930.PMID: 33113776
- [4] A systematic review of the effects of cannabis on cognition in people with multiple sclerosis. Landrigan J, Bessenyei K, Leitner D, Yakovenko I, Fisk JD, Prentice JL. Mult Scler Relat Disord 2022 Jan;57:103338. doi: 10.1016/j.msard.2021.103338. Epub 2021 Oct 18.PMID: 35158449
- [5] The Use of Cannabis and Cannabinoids in Treating Symptoms of Multiple Sclerosis: a Systematic Review of Reviews. Nielsen S, Germanos R, Weier M, Pollard J, Degenhardt L, Hall W, Buckley N, Farrell M. Curr Neurol Neurosci Rep 2018 Feb 13;18(2):8. doi: 10.1007/s11910-018-0814-x.PMID: 29442178 Review.
KKNMS
Das Krankheitsbezogene Kompetenznetz Multiple Sklerose (KKNMS) ist eines von bundesweit 21 Kompetenznetzen in der Medizin, die vom Bundesministerium für Bildung und Forschung initiiert wurden. Sie alle verfolgen das Ziel, Forscher zu spezifischen Krankheitsbildern bundesweit und interdisziplinär zu vernetzen, um einen schnellen Transfer von Forschungsergebnissen in die Praxis zu ermöglichen. Der Fokus der aktuellen KKNMS-Projekte liegt auf der langfristigen Verbesserung der MS-Diagnose, -Therapie und -Versorgung. Die Geschäftsstelle ist am Universitätsklinikum Münster angesiedelt.
DMSG, Bundesverband e.V.
1952/1953 als Zusammenschluss medizinischer Fachleute gegründet, vertritt die Deutsche Multiple Sklerose Gesellschaft (DMSG) die Belange Multiple Sklerose Erkrankter und organisiert deren sozialmedizinische Nachsorge. Die DMSG mit Bundesverband, 16 Landesverbänden und etwa 800 örtlichen Kontaktgruppen ist eine starke Gemeinschaft von MS-Erkrankten, ihren Angehörigen, fast 4.000 ehrenamtlichen Helfern und 276 hauptberuflichen Mitarbeitern. Insgesamt hat die DMSG fast 43.000 Mitglieder. Mit ihren umfangreichen Dienstleistungen und Angeboten ist sie heute Selbsthilfe- und Fachverband zugleich, aber auch die Interessenvertretung MS-Erkrankter in Deutschland. Schirmherr des DMSG-Bundesverbandes ist Christian Wulff, Bundespräsident a.D.
Multiple Sklerose (MS) ist eine chronisch entzündliche Erkrankung des Zentralnervensystems (Gehirn und Rückenmark), die zu Störungen der Bewegungen, der Sinnesempfindungen und auch zur Beeinträchtigung von Sinnesorganen führt. In Deutschland leiden nach neuesten Zahlen des Bundesversicherungsamtes mehr als 250.000 Menschen an MS. Trotz intensiver Forschungen ist die Ursache der Krankheit nicht genau bekannt.
MS ist keine Erbkrankheit, allerdings spielt offenbar eine genetische Veranlagung eine Rolle. Zudem wird angenommen, dass Infekte in Kindheit und früher Jugend für die spätere Krankheitsentwicklung bedeutsam sind. Welche anderen Faktoren zum Auftreten der MS beitragen, ist ungewiss. Die Krankheit kann jedoch heute im Frühstadium günstig beeinflusst werden. Weltweit sind schätzungsweise 2,8 Millionen Menschen an MS erkrankt.
Ansprechperson für die Medien
Krankheitsbezogenes Kompetenznetz Multiple Sklerose
Leitung der Geschäftsstelle: Dr. Zoë Hunter
info@kkn-ms.de
www.kompetenznetz-multiplesklerose.de
Ansprechperson für die Medien
Pressestelle des DMSG-Bundesverband e.V.
Leitung Presse- und Öffentlichkeitsarbeit: Ines Teschner
teschner@dmsg.de
www.dmsg.de