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29.11.2022 – B-Zell-depletierende Therapien, die gegen die Oberflächenmarker CD20 oder CD19 gerichtet sind, haben u.a. einen starken Einfluss auf das humorale Immunsystem. Zum Teil können im Behandlungsverlauf Immunglobulin-Serumspiegel absinken. Insbesondere bei diesen Fällen besteht die Sorge, dass eine längerfristige Behandlung mit B-Zell-depletierenden Therapeutika zu einem sekundären Immundefizienz-Syndrom führen könnte. Das KKNMS sieht daher die Notwendigkeit, die aktuelle Datenlage zusammenzufassen und Empfehlungen zum Monitoring und zur Risikominimierung zu geben.

Die Anti-CD20-Antikörper Ocrelizumab und Ofatumumab sind zugelassene, effiziente und gut etablierte Therapien zur Behandlung der (hoch)aktiven Multiplen Sklerose. Mit Inebilizumab ist außerdem seit kurzem ein Anti-CD19-Antikörper für die NMOSD zugelassen. Ocrelizumab und Ofatumumab haben in großen MS-Studienprogrammen günstige Nebenwirkungsprofile gezeigt, ebenso Inebilizumab in einer Phase 2/3-Studie bei NMOSD. Alle genannten Therapien können aber zur Senkung von Immunglobulin-Serumspiegeln führen, mutmaßlich durch Eliminierung von CD20-exprimierenden Vorläuferzellen der Plasmazellen. 

In den kontrollierten Zulassungsstudien mit B-Zell-depletierenden Antikörpern einschließlich deren offener Extensionsphasen wurden Serumspiegel der Immunglobuline wiederholt bestimmt. Über 7 Jahre Beobachtungszeit zeigte sich in den OPERA-Studien und ihrer offenen Verlängerung bei Patienten mit kontinuierlicher Ocrelizumab-Behandlung ein Abfall der IgG-Spiegel um durchschnittlich 0,33 g/l bzw. 3,0 % pro Jahr. Einen IgG-Spiegel unterhalb der unteren Normgrenze (im OPERA-Studienprogramm 5,65 g/l) hatten 7,7 % der Patienten. Während für IgM – im Ausmaß ähnlich wie im OPERA-Studienprogramm mit Ocrelizumab – auch im ASCLEPIOS-Studienprogramm für Ofatumumab die Serumspiegel im Mittel absanken, blieb der IgG-Spiegel unter überwiegend kontinuierlicher Behandlung mit Ofatumumab über 168 Wochen im Mittel stabil (+1,1%). Es ist jedoch anzumerken, dass aufgrund unterschiedlicher Ausschluss-, Abbruch- und Wiederbeginn-Kriterien die Immunglobulindaten beider Studienprogramme nur eingeschränkt miteinander vergleichbar sind. Unterschiede der IgG-Spiegelverläufe zwischen den Programmen könnten hierdurch eventuell überschätzt werden.

Grundsätzlich sollte eine quantitative Reduktion der Serumimmunglobulin-Spiegel nicht gleichgesetzt werden mit einem Immundefekt. „In allen Studien trat die große Mehrzahl schwerer Infektionen bei Patienten mit normwertigen Immunglobulinspiegeln auf, umgekehrt wurde bei niedrigen Immunglobulinspiegeln nicht immer eine klinische Infekthäufung beobachtet“, so Prof. Dr. Hayrettin Tumani, Leiter des Labors für Liquordiagnostik und klinische Neurochemie der Universität Ulm und Mitglied des Fachausschuss Versorgung und Therapeutika des KKNMS.

Neben der regelmäßigen Bestimmung der Immunglobuline vor und während der Therapie ist daher vor allem ein sorgfältiges Infektionsscreening vor, während und ggf. nach der Behandlung von Bedeutung. Das Infektionsscreening auf bakterielle Infektionen (rezidivierende Sinusitiden, sinubronchiales Syndrom, Pneumonie) ist im Hinblick auf die Fortsetzung der Therapie oder die Einleitung von Substitutionsmaßnahmen wichtiger und wesentlicher als die reine Betrachtung von Labor-Grenzwerten, die zudem von der Labormethodik abhängig sind.

Zur Verminderung von Infektionsrisiken sind darüber hinaus Impfungen sehr wichtig, die in individueller Risiko-Nutzen-Abwägung (cave wenn sich ein Patient gerade in einer sehr aktiven Phase von MS oder NMOSD befindet) möglichst noch vor Beginn der Behandlung erfolgen sollten, weil die Impfantwort unter Anti-CD20-Therapie reduziert ist und eine Anti-CD20-Therapie per se mit einem erhöhten Risiko für Infektionskrankheiten einhergeht. Totimpfungen sollten spätestens zwei, Lebendimpfungen spätestens vier Wochen vor Behandlungsbeginn abgeschlossen sein. 

Aus bisherigen Erkenntnissen ergeben sich folgende Empfehlungen für den Umgang mit Serum-Immunglobulinspiegeln bei Anti-CD20- und Anti-CD19-Therapien:

  1. Die Messung der IgG- und IgM-Serumspiegel vor Beginn der Therapie ist obligat, eine zusätzliche Messung des IgA-Spiegels fakultativ. Insbesondere ein vor Therapiebeginn reduzierter IgG-Spiegel sollte (als in anderen Indikationen etablierter Risikofaktor) bei der Wahl der Immuntherapie mitberücksichtigt werden.
  2. Angesichts der Studiendaten werden bei einem Teil der Behandelten die Immunglobulinspiegel unter der Therapie zunehmend absinken. Daher sollten obligat die IgG- und fakultativ auch die IgM-Serumspiegel in mindestens jährlichen, vorzugsweise halbjährlichen Abständen unter der Therapie kontrolliert werden. Die therapeutischen IgG-Antikörper selbst beeinflussen den IgG-Serumspiegel nicht signifikant, sodass eine Verlaufskontrolle jederzeit sinnvoll möglich ist.
  3. Ein isolierter IgG-Mangel ohne verstärkte Infektionsneigung ist aktuell (zumeist) keine Indikation für eine Substitutionstherapie mit intravenösen Immunglobulinen. Treten jedoch zusätzlich wiederholte oder schwere Infektionen auf, kommt eine Supplementation mit intravenösen oder subkutanen Immunglobulinen in Betracht. Für die Entscheidung zur Substitution spielt weniger eine konkrete Anzahl von Infekten eine Rolle, als vielmehr der individuelle Kontext. Für eine Substitution kann eine einmal monatliche Dosis von 0,4 – 0,6 g/kg Körpergewicht eingesetzt werden, die fortlaufend so adaptiert wird, dass der IgG-Spiegel vor der nächsten Immunglobulin-Gabe (Nadir) noch im Normbereich liegt. Ob die B-Zell-Therapie hierunter fortgesetzt wird, entscheidet eine Risiko-Nutzen-Abwägung. Sollten die Risiken überwiegen, kann eine Beendigung der B-Zell-depletierenden Therapie geboten sein. Bei der Entscheidung zur Beendigung, Fortführung oder Modifikation der Therapie sollte stets die Krankheitsaktivität der zugrundeliegenden Autoimmunerkrankung berücksichtigt werden.
  4. Eine Immunglobulin-Supplementation bei isoliert reduziertem IgM- oder IgA-, jedoch normwertigem IgG-Spiegel ist meist nicht zielführend, auch nicht bei rezidivierenden Infektionen, da die verfügbaren IVIG-Präparate nur therapeutisch irrelevante IgM- oder IgA-Anteile enthalten und hier wahrscheinlich keinen zusätzlichen Schutz bieten. Ein angeborener selektiver IgA-Mangel stellt wegen der extremen Seltenheit anaphylaktischer Reaktionen – anders als es noch in einigen IVIG-Fachinformationen steht – keine Kontraindikation einer IVIG-Gabe mehr dar. Es können deshalb IVIG in der oben skizzierten Konstellation wahrscheinlich auch dann gefahrlos substituiert werden, wenn IgA aktuell unterhalb der Nachweisgrenze liegt und vor Therapiebeginn kein selektiver IgA-Mangel ausgeschlossen wurde.

Zusammenfassend ist eine Hypogammaglobulinämie bei einem gewissen Prozentsatz von Patienten mit Anti-CD20- und Anti-CD19-Therapien festzustellen. Es ist nicht auszuschließen, dass ein Abfall des IgG-Serumspiegels langfristig zu Problemen i.S. eines sekundären Immundefektes führen kann. Daher sollten die IgG-Spiegel unter Therapie sorgfältig monitoriert werden. Eine Substitution von Immunglobulinen sollte aktuell nur bei Auftreten von Infektionserkrankungen erfolgen. Zur Bewertung einer erhöhten Infektionsneigung ist der individuelle Fall mit seinen spezifischen Besonderheiten (Alter, Vorerkrankungen, Begleitmedikation) zu betrachten. Eine wichtige Frage für die Zukunft wird zudem sein, inwieweit durch vorausschauende Anpassung der Dosis von Anti-CD20/CD19-Therapien Hypogammaglobulinämien verhindert bzw. verzögert werden können. Hier wären Studien zur Wirksamkeit verringerter Dosisregime wünschenswert.

Autoren

H. Tumani, I. Kleiter, M. Buttmann, H. Wiendl, M. Mäurer

Für die KKNMS Task Force Versorgungsstrukturen und Therapeutika

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Der Abdruck ist frei.

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Das Krankheitsbezogene Kompetenznetz Multiple Sklerose (KKNMS) ist eines von bundesweit 21 Kompetenznetzen in der Medizin, die vom Bundesministerium für Bildung und Forschung initiiert wurden. Sie alle verfolgen das Ziel, Forscher zu spezifischen Krankheitsbildern bundesweit und interdisziplinär zu vernetzen, um einen schnellen Transfer von Forschungsergebnissen in die Praxis zu ermöglichen. Der Fokus der aktuellen KKNMS-Projekte liegt auf der langfristigen Verbesserung der MS-Diagnose, -Therapie und -Versorgung. Die Geschäftsstelle ist am Universitätsklinikum Münster angesiedelt.

1952/1953 als Zusammenschluss medizinischer Fachleute gegründet, vertritt die Deutsche Multiple Sklerose Gesellschaft (DMSG) die Belange Multiple Sklerose Erkrankter und organisiert deren sozialmedizinische Nachsorge. Die DMSG mit Bundesverband, 16 Landesverbänden und etwa 800 örtlichen Kontaktgruppen ist eine starke Gemeinschaft von MS-Erkrankten, ihren Angehörigen, fast 4.000 ehrenamtlichen Helfern und 276 hauptberuflichen Mitarbeitern. Insgesamt hat die DMSG fast 43.000 Mitglieder. Mit ihren umfangreichen Dienstleistungen und Angeboten ist sie heute Selbsthilfe- und Fachverband zugleich, aber auch die Interessenvertretung MS-Erkrankter in Deutschland. Schirmherr des DMSG-Bundesverbandes ist Christian Wulff, Bundespräsident a.D.

Multiple Sklerose (MS) ist eine chronisch entzündliche Erkrankung des Zentralnervensystems (Gehirn und Rückenmark), die zu Störungen der Bewegungen, der Sinnesempfindungen und auch zur Beeinträchtigung von Sinnesorganen führt. In Deutschland leiden nach neuesten Zahlen des Bundesversicherungsamtes mehr als 250.000 Menschen an MS. Trotz intensiver Forschungen ist die Ursache der Krankheit nicht genau bekannt.

MS ist keine Erbkrankheit, allerdings spielt offenbar eine genetische Veranlagung eine Rolle. Zudem wird angenommen, dass Infekte in Kindheit und früher Jugend für die spätere Krankheitsentwicklung bedeutsam sind. Welche anderen Faktoren zum Auftreten der MS beitragen, ist ungewiss. Die Krankheit kann jedoch heute im Frühstadium günstig beeinflusst werden. Weltweit sind schätzungsweise 2,8 Millionen Menschen an MS erkrankt.

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